Zu der jüngsten Verfolgungswelle gegen Menschenrechtsorganisationen in Russland

Seit heute früh finden bei mehreren prominenten Mitarbeiter:innen von Memorial in Moskau Hausdurchsuchungen statt. Betroffen sind u.a. Oleg Orlov (Leiter Menschenrechtszentrum/MRZ Memorial), dessen Stellvertreter Nikita Petrov, außerdem Jan Raczynski (Leiter Memorial International/MI), Alexandra Polivanova (Leiterin des historischen Programms) und ihre Mutter, sowie die Mitarbeiterinnen Irina Ostrovskaya, Galina Yordanskaya, Alena Kozlova und Alexandra Guryanova. Inzwischen wird auch der Sitz von Memorial im Stadtzentrum durchsucht.

Als Vorwand dient eine Justiz-Anordnung vom 3. März, mit der ein Verfahren wegen angeblicher Rechtfertigung des Nationalsozialismus eröffnet wurde. Zur Begründung heißt es, in den Listen der unrechtmäßig verfolgten oder getöteten Opfer des Stalin-Regimes, die Memorial führt, seien die Namen enthalten von einem einstigen Angehörigen der deutschen (NS-)Polizeitruppen und zweier wegen „Vaterlandsverrat“ verurteilter Kriegsgefangener. Die Memorial-Mitarbeiter:innen sind jetzt zu Verhören abgeführt worden. MRZ Memorial veröffentlicht auf seinem Telegram-Kanal Полный ПЦ2 fortlaufend Informationen, auch zu den Razzien.

In den vergangenen Wochen gab es eine neue Welle an Verfolgungen der noch in Moskau bzw. Russland verbliebenen Menschenrechtsorganisationen (MRO) und ihrer Mitarbeiter. So wurde kürzlich die allererste sowjetische bzw. russische MRO, die Moskauer Helsinki-Gruppe, liquidiert. Das bekannte Andrey-Sakharov-Zentrum – zugleich Museum für den Nobelpreisträger und renommierter Bildungs- und Diskussionsort in Moskau – verliert derzeit sein vor fast 30 Jahren erhaltenes Gebäude und muss schließen. Gegen Mitarbeiter:innen von Memorial Perm gab es vorige Woche Festnahmen und Verhöre im Zusammenhang mit dem unrechtmäßigen Anspruch der Sicherheitskräfte, die Archivmaterialien der juristisch bereits liquidierten Memorial-Gliederungen in Perm, aber auch von MRZ und MI zu kontrollieren bzw. einzubehalten.

Austausch e.V. protestiert gegen die neuen Repressionen gegen Menschenrechtsverteidiger:innen in Russland. Sie zeigen den unverhüllten Diktatur-Charakter des Regimes, das vergeblich versucht, die politischen Ziele der Verfolgung hinter formaljuristischen Vorwänden zu verbergen und damit die verbliebenen Aufklärer zu Menschenrechten und historischer Aufarbeitung zusätzlich zu stigmatisieren und zu bedrohen. Dies geschieht dieser Tage signifikantermaßen auch noch vor dem Hintergrund des Treffens des Kriegsverbrechers Vladimir Putin und des chinesischen Staats- und Parteichefs Xi Jinping.

Nach dem Austritt Russlands aus dem Europarat können solche neuen illegitimen Verfolgungen dort nicht mehr angeklagt werden – um so wichtiger ist es, dass die Weltöffentlichkeit sie wahrnimmt, die Betroffenen unterstützt, soweit möglich, darunter auch durch kurzfristige Visa- und Einreise-Gewährung, sowie eine detaillierte Dokumentation der Vorfälle. Dabei muss auch international deutlich gemacht werden: Wer dem Regime zuarbeitet und an solchen Verfahren mitwirkt, macht sich mitschuldig und muss später dafür zur Rechenschaft gezogen werden.

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