Von der Angst zur Haltung – Die Ukraine verteidigen und das europäische Haus für die Zukunft sichern

Kommentar anlässlich des 24. Februar 2023

Nach einem Jahr des flächendeckenden russischen Angriffskrieges liegen in der Ukraine ganze Städte und Regionen in Trümmern, starben auf beiden Seiten Zehntausende, mussten rund elf Millionen Ukrainer:innen vor dem Krieg fliehen oder wurden gar nach Russland entführt. Täglich werden Zivilist:innen verletzt, gefoltert und ermordet, wird vom Krankenhaus bis zum Stromkraftwerk gezielt Infrastruktur zerbombt, leben die Ukrainer:innen in ständiger Gefahr durch den Raketen- und Drohnenterror der Invasoren.

Der 24. Februar 2022 war ein schwarzer Tag für alle in Europa. Unser von vielen geteiltes altes Ziel aber hat er nicht in Frage gestellt, sondern erst recht bekräftigt: Das gemeinsame Haus Europa zu bauen, mit Frieden, Demokratie, Gleichberechtigung für alle und Offenheit füreinander.

Wir bewundern den mutigen Einsatz der Ukrainer:innen gegen den russischen Angriffskrieg und für ein Leben in Sicherheit und Freiheit, Eigenständigkeit und Demokratie. Es ist ihr bewusster Entschluss, sich nicht erneut von Diktatoren aus Moskau unterjochen zu lassen. Alle Tage sind unsere Gedanken bei den Menschen in der Ukraine, bei unseren Partnerorganisationen in Ivano-Frankivsk und Irpin, in Kramatorsk und Kyiv, in Rivne, Dnipro und vielen weiteren Orten. Und explizit möchten wir unseren eigenen ukrainischen und deutschen Kolleg:innen danken, die unter immens erschwerten Bedingungen weiter im Land tätig sind: In unserem Zivilgesellschaftszentrum „Drukarnia“ haben sie dieses ganze harte Jahr hindurch dafür gesorgt, dass den Menschen vor allem aus der Ost- und Südukraine diese wichtige Anlaufstelle für Unterstützung, Versorgung, Engagement und Zusammenarbeit weiter zur Verfügung steht, obwohl auch sie selbst am 24. Februar 2022 aus Slowjansk in die Westukraine hatten fliehen müssen.

Vier weitere ukrainische Regionen hat sich der Kreml seit dem 24. Februar 2022 bereits mit Gewalt einzuverleiben versucht, wie schon die Krim 2014. Und seine Propaganda beschwört immer neue Kriegsphantasien: den Einsatz taktischer Atomwaffen, den Überfall auf Moldova oder Estland, präventive Luftangriffe gegen Paris oder die „Rückeroberung“ Ostdeutschlands. Verständlicher-weise erzeugen solche Drohungen Angst, auch in Deutschland. Doch warum zeigen die Menschen in der Ukraine, im Baltikum, die real am stärksten bedroht sind, die geringste Furcht? Weil sie wissen, dass man Angst durch Haltung überwinden muss, andernfalls wird man zu ihrer Geisel.

Wir sind froh, dass sich auch in der deutschen Politik die Einsicht durchgesetzt hat, dass Sicherheit nicht mit der Führung in Russland möglich ist, sondern Sicherheit vor ihr nötig ist. Wer heute trotzdem eine gemeinsame Zukunft noch mitdenken will – und sei es eine in Jahrzehnten -, der muss sich gegen das Regime in Russland positionieren. Denn dieses Regime zerstört auch das eigene Land, dessen Menschen, seine Verfassung, Sicherheit und Entwicklung. Es ist antirussisch. Und so genügt es nicht zu sagen, dass Russland den Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht gewinnen darf – es muss ihn, auch im eigenen Interesse, verlieren. Wer mit Putin verhandelt und seine imperialen Forderungen auch nur in Teilen erfüllt, vergeht sich an der Ukraine, am Völkerrecht, an allen Ländern Europas – und an Russland. Dieser Vorwurf kann den Autor:innen Offener Briefe und anderen Fürsprechern von Verhandlungen mit dem Diktator nicht erspart werden. Ihre berechtigte Angst mündet in unberechtigte Unterwerfungserwartungen.

Darum dürfen wir in diesem Krieg, den niemand von uns wollte, nicht unsere Verantwortung für seinen Ausgang abweisen. Die finanzielle, humanitäre und auch militärische Unterstützung für die Ukraine seitens der deutschen Gesellschaft und Politik darf sich nicht nur in Vergleichen zu Leistungen anderer Länder bemessen. Das Maß ist, was die Ukraine benötigt, um diesen Krieg zu gewinnen und so ihre Sicherheit, ihr Recht auf Unverletzlichkeit und eigenständige Entwicklung zurückzugewinnen. Dazu braucht es vorausschauende und schnellere Entscheidungen. Wer sich, wie wir, dem friedlichen Zusammenleben in ganz Europa verschrieben hat, muss das gegen jene durchsetzen, die weiter täglich zur Gewalt greifen. Das macht, so furchtbar es ist, den Einsatz von Waffen sowie deren hinreichende Herstellung und Bereitstellung in Deutschland und Europa notwendig. Der Mangel an militärischem Gerät, das die Ukraine benötigt, um mit dem Krieg den Frieden zu gewinnen, muss ein Ende finden. Putin spekuliert darauf, dass die Unterstützung für die Ukraine mit der Zeit nachlässt. Umso entschiedener müssen wir Maßnahmen zur langfristigen Unterstützung der Ukraine ergreifen, um ihm diese Illusion zu nehmen. Zugleich muss er, wie auch seine gewissenlosen Mittäter, wissen, dass die Verbrechen nicht straffrei bleiben.

Wir müssen uns in Deutschland auch anderen Ländern, etwa im Baltikum, im Kaukasus und in Zentralasien, umfassend und stärker als bisher widmen. Denn zum einen haben sie – das lehrt die verfehlte Osteuropa- und Russlandpolitik bis 2022 – Anspruch auf gleichberechtigte Wahrnehmung. Zum anderen bedroht das revanchistische Wunschbild des russischen Regimes auch diese Nachbarn. Es braucht daher eine integrale Strategie, wie Frieden und Freiheit vor diesem Russland, das mutmaßlich noch viele Jahre eine Gewaltdiktatur sein wird, gesichert werden können.

Dem Krieg entgegenzutreten und seine Folgen zu mindern, liegt in unser aller Verantwortung. Um dazu beizutragen, haben wir sofort unsere Spendenaktion „Ukraine-Hilfe“ ins Leben gerufen, humanitäre Hilfe und Schutzkleidung bereitgestellt und Geflüchtete unterstützt. Wir haben an der Dokumentation von Kriegsverbrechen mitgewirkt, mit der NGO-Plattform CivilMplus europaweit über die Lage in den frontnahen Regionen und der Zivilgesellschaft informiert und an Berliner Schulen die Hintergründe des Krieges erklärt. Das mit unseren Partnern veranstaltete „4. Forum für eine Europäische Ukraine“ im November brachten wichtige Akteure der dortigen Zivilgesellschaft zum Austausch über den Krieg und Wiederaufbau zusammen. Im Dezember organisierten wir gemeinsam mit CISR e.V. und einer vielfältigen Initiativgruppe aus russischen demokratischen NGOs, Medien und Initiativen den ersten Kongress der russischen Anti-Kriegs-Initiativen in Berlin, der fast 300 Beteiligte aus 170 Initiativen, aus 30 (Exil-)Ländern und aus Russland vereinte. Und trotz des Krieges verlieren wir die Lage in anderen Ländern nicht aus dem Blick – dass auch Armenien weiter militärisch bedroht ist, und Belarus weiter zu totalitärer Herrschaft, Kriegsbeteiligung und Anschluss an Russland gedrängt wird. Unser Verein wurde 1992 als Deutsch-Russischer Austausch begründet, um nach Überwindung des Kalten Krieges Begegnung und Kooperation in einem friedlichen Europa zu fördern. Mit allem, was wir tun, bleiben wir diesem Anliegen verpflichtet.

Wir haben seit 2014 erlebt, wie alle Diplomatie an dem fanatisch verfolgten Ziel Putins scheiterte, den Supermachtstatus der aufgelösten Sowjetunion zurückzuerhalten. 2021 wurden wir für unsere kritischen Stellungnahmen – die mit den wachsenden, auch viele unserer Weggefährten direkt betreffenden Repressionen in Russland dringlicher wurden – in Russland verboten. Dort steuert heute ein imperialistisches und menschenverachtendes Verbrecherregime mit Führerkult, Propaganda und Angst eine Gesellschaft, die diesem Treiben weitgehend passiv bis willfährig gegenübersteht. Allerdings sollten wir dabei die Mutigen, innerlich Freien nicht übersehen, die es im Land dennoch gibt – die politischen Häftlinge und diejenigen, die ihre zivilgesellschaftliche Arbeit mehr oder weniger offen fortsetzen.

Die Menschen in der Ukraine werden viele Jahre lang viel Kraft und viele Ressourcen für die Bewältigung des Krieges und den Wiederaufbau benötigen. Dabei richten sie auch an uns Hoffnungen und berechtigte Erwartungen. Wir schulden ihnen echtes Interesse, Empathie, Unterstützung und partnerschaftliche Zusammenarbeit. Das ist ein wesentlicher Gehalt der EU-Beitrittsperspektive. Für eine europäische Zivilgesellschaft!


Stefan Melle
Geschäftsführer von Austausch e.V.

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