Jacob Riemer, Zweiter Geschäftsführer Austausch e.V.

Europas Moment: Demokratie neu denken – in radikaler Offenheit

Ein Abschiedsessay von Jacob Riemer, Zweiter Geschäftsführer Austausch e.V.


Während die liberale Ordnung des Westens an Strahlkraft verliert, steht Europa vor einer Wegscheide: Rückzug ins Zweifeln – oder der Aufbruch zu einer neuen, plural gedachten Demokratie.


Die Verschiebung der demokratischen Geographie


Die geistige und strukturelle Geographie der Demokratie verändert sich. Für Jahrzehnte war sie auf die Vereinigten Staaten ausgerichtet – gegründet auf die Macht und Ausstrahlung einer demokratischen Supermacht, auf eine Vorstellung von Freiheit, die individuelle Selbstverwirklichung, Rechtsstaatlichkeit und die Macht des Marktes ins Zentrum stellte. Dieses Modell prägte den Westen, bot Orientierung und vermittelte Handlungskraft. Doch die jüngeren Jahre zeigen: Die liberale Ordnung amerikanischer Prägung verliert ihre Anziehungskraft – nicht in einem plötzlichen Bruch, sondern durch ein allmähliches Schwinden des Vertrauens in ihre globale Führungsrolle und in die Integrität propagierter Werte.


Dies erscheint zunächst mal als ein Problem für uns, die wir für ein offenes und demokratisches Europa in einer offenen und demokratischen Welt des 21. Jahrhunderts streiten. Doch gerade darin liegt auch eine Chance. Europa kann – und muss – sich als eigenständiges demokratisches Kraftzentrum begreifen. Als ein Bund von Demokratien, den Freiheit und soziale Gerechtigkeit neu verbindet; die politische Teilhabe nicht nur als Abwehrrecht, sondern als gemeinsames Gestaltungsrecht versteht.


Europas besondere demokratische Tradition


In der europäischen Tradition – von der Sozialcharta des Europarats bis zur Grundrechtecharta der EU – wird die Würde des Einzelnen deutlicher als in anderen Demokratietraditionen mit ökonomischer und sozialer Teilhabe verschränkt. Diese Verbindung könnte heute der entscheidende Beitrag Europas zu einer erneuerten Demokratieidee sein.


Doch die Zukunft der Demokratie entscheidet sich nicht an einem Ort allein. Sie entsteht aus der Fähigkeit, verschiedene kulturelle und historische Quellen von Freiheit, Würde und Gleichheit aus einem breiten geographischen Zusammenhang zusammenzuführen. Demokratie, oder breiter verstanden Freiheitlichkeit, war nie ein ausschließlich westliches Projekt. Darin liegt die Kraftquelle einer demokratischen Bewegung des 21. Jahrhunderts.


Demokratische Vitalität jenseits des „alten“ Westens


Beispiele finden sich weltweit:


In Südkorea bewahrte zivile Wachsamkeit die Demokratie 2016 und 2025 vor autoritären Rückschritten.
In Taiwan formt eine neue Generation ihre Identität als Individuen und Nation auf Basis demokratischer Selbstbehauptung gegen ein revisionistisch-expansives Festlandschina.


Indien lebt – trotz Spannungen – eine vielsprachige, religiös pluralistische Demokratie. In Botswana sichern die traditionellen Kgotla-Versammlungen lokale Mitsprache und Konsens.


Kenia bleibt – allen Krisen zum Trotz – ein demokratischer Anker in Ostafrika.


Auch in den egalitären Traditionen nomadischer Gesellschaften Nordafrikas und Zentralasiens finden sich deliberative Entscheidungspraktiken, die Macht als Verantwortung und Freiheit als gemeinsames Gut begreifen.


Diese Vielfalt zeigt: Es gibt nicht nur einen Weg zu Demokratie und Freiheit.


Von Relativismus zu Legitimität


Eine erneuerte globale Demokratiebewegung kann nur entstehen, wenn sie diese Vielfalt als Ressource begreift und deutlicher sichtbar macht. Dabei ist eines festzustellen: Es geht nicht um Relativismus, sondern um Legitimität. Die Demokratie wird überzeugender, wenn sie sich nicht länger als Exportprodukt des Westens, sondern als vielschichtiges gemeinsames menschliches Erbe persönlichen und kollektiven Freiheitsstrebens versteht.


Gerade darin liegt strategische Klugheit: Indem wir die Idee der Demokratie aus der engen Klammer „westlicher Werte“ lösen, stärken wir ihre globale Anschlussfähigkeit und entziehen der antiwestlichen Rhetorik autoritärer Regime ihre Schlagkraft. Eine radikal plural gedachte Demokratie eröffnet neue Räume der Kooperation – ohne kulturelle Identität zu leugnen. So entkräftet sie das Ideologem sogenannter „traditioneller Werte“, das lokale Freiheitskulturen negiert, um autoritäre Herrschaft zu legitimieren.


Plural verstandene Freiheitlichkeit


Eine plural verstandene Freiheitlichkeit spricht die Sprache gemeinsamer Ziele – Würde, Sicherheit, Teilhabe – und verankert sie in lokalen Überzeugungen und Traditionen. Sie überlässt die Deutung von Freiheit nicht länger jenen, die sie zum Machterhalt missbrauchen. So entsteht eine glaubwürdige Grundlage für die Neuformulierung einer universalen Freiheitsidee und -praxis.


Aus der Krise des Westens kann der Beginn einer neu fundierten, global anschlussfähigen Freiheitsbewegung werden – einer Demokratiebewegung, die glaubwürdig verspricht, was Millionen junger Menschen von Kathmandu bis Casablanca, von Nairobi bis Antananarivo einfordern: ein Leben in Würde, Mitsprache und materieller Sicherheit.


Die neue Energie einer globalen Demokratie


Die Zukunft der Demokratie liegt nicht mehr allein im Westen – das war lange absehbar und sollte uns heute sehr deutlich bewusst sein. Ihre Energie entsteht überall dort, wo Menschen sich Gehör verschaffen, Verantwortung übernehmen und Macht in Rechenschaft verwandeln – in Europa, Asien, Afrika und Lateinamerika.


Welches Charisma die demokratische Idee im 21. Jahrhundert entfalten kann, zeigen die Menschen in der Ukraine, die den Kampf um nationale Selbstbehauptung gegen die russischen Angreifer aufs Engste mit der Verteidigung ihrer in schweren Kämpfen errungenen Demokratie verknüpft.


Europa als wehrhaftes aber offenes Haus


Hier liegt auch der Auftrag für eine Organisation wie Austausch e. V. Seit ihrer Gründung lebt sie aus der Überzeugung, dass europäische Zivilgesellschaft mehr ist als die Summe nationaler Erfahrungen – und dass es sich lohnt, das gemeinsame Haus Europa zu einem guten Ort für Demokratie und die millionenfachen Wünsche nach Würde, Freiheit und Chancen zu machen. Unser Auftrag besteht darin, beizutragen, dass dieses Haus dem Druck autoritärer Macht standhält – und bei aller Festigkeit nach innen seine Türen und Fenster in die Nachbarschaft offenhält.


Europa muss kein Bollwerk werden, um demokratisch zu bleiben. Es kann ein Haus sein, das dem Sturm standhält, weil seine Fundamente fest und seine Türen gut geschützt aber offen sind.


Und eines bleibt dabei klar:
Die Zukunft des gemeinsamen europäischen Hauses entscheidet sich in der Ukraine – in ihrem andauernden Freiheitskampf. Diesen zu unterstützen, ist unsere Verpflichtung.

  • Jacob is the Second Executive Manager of Austausch. He previously worked for several years as a project manager for us, overseeing enhanced civil society cooperation in the OSCE region as well as between actors from the European Union and Central Asia.

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