Der Terroranschlag in Russland als Symptom einer komplexen Krise und Perspektiven ihrer Bewältigung
Am vergangenen Samstag fand in Russland ein schrecklicher Terroranschlag statt. Vermutlich vier Attentäter drangen am nordöstlichen Stadtrand von Moskau in die Crocus-City-Hall ein, wo sich mehrere tausend Menschen zu einem Rockkonzert versammelt hatten. Mit automatischen Gewehren schossen sie auf die Konzertbesucherinnen und -besucher und setzten schließlich die Konzerthalle in Brand. Bei dieser brutalen Tat gegen friedliche Zivilistinnen und Zivilisten wurden mindestens 144 Menschen getötet und mehrere Hundert zum Teil schwer verletzt.
Nicht zufällig erinnern die Ereignisse an islamistische Terroranschläge aus der Vergangenheit, wie den im Jahr 2015 auf den Pariser Konzertsaal Bataclan. Es dauerte nicht lange, bis die islamistische Terrororganisation IS – wie bereits 2015 – die Verantwortung für die jüngste Tat übernahm, und die Urheberschaft seitdem auch durch die Veröffentlichung von Videoaufnahmen der Terroristen noch einmal untermauerte. Drahtzieher der Tat war offensichtlich der afghanische IS-Ableger ISPK, als Tatverdächtige gelten vier mutmaßlich tadschikische Staatsbürger.
In dem nachfolgenden Beitrag wollen wir einige Hintergründe erläutern. Wieso sind in den vergangenen Jahren vermehrt Zentralasiaten an terroristischen Aktivitäten beteiligt? Was sind die Ursachen für islamistische Radikalisierung? Warum liegen einige der Ursachen dafür in Russland selbst? Und was kann Zivilgesellschaft dagegen tun, wenn die Politik keine oder unzureichende Maßnahmen ergreift?
ISPK (bzw. ISIS-K), der afghanische Ableger der Terrororganisation operiert verstärkt auch außerhalb Afghanistans. Allein in Deutschland gab es im vergangenen Jahr mehrere Vorfälle mit Verbindung zu ISPK. So wurden im März 2023 fünf Tadschiken, die sich ISPK angeschlossen und einen Terroranschlag in Deutschland geplant hatten, in einem Revisionsverfahren am Bundesgerichtshof zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Im Juli 2023 wurden insgesamt sieben Tadschiken, Kirgisen und Turkmenen festgenommen, die verdächtigt werden für ISPK Terroranschläge in Deutschland geplant zu haben. Im Dezember 2023 wurden Anschlagspläne auf den Kölner Dom sowie den Wiener Stephansdom bekannt, die mit ISPK in Verbindung gebracht werden, wobei ein Tadschike als verdächtig gilt. Und zuletzt Anfang März wurden zwei Afghanen in Deutschland verhaftet, die einen Terroranschlag in Schweden planten. Auch in Russland geben Sicherheitsbehörden immer wieder bekannt, islamistische Anschlagsplanungen vereitelt zu haben. Zuletzt teilte der FSB erst Anfang März mit, in der Region Kaluga südlich von Moskau mehrere Islamisten getötet zu haben, die im Namen von ISPK angeblich ein Attentat auf eine Synagoge in Moskau geplant hatten.
Um zu verstehen, warum immer wieder auch Tadschiken, Usbeken und Kirgisen an den terroristischen Aktivitäten beteiligt sind, muss man sich vor Augen führen, dass alle drei Länder seit vielen Jahren mit vielfältigen politischen und wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen haben.
Die Länder Zentralasiens zählen zu den wenigen Staaten weltweit ohne Zugang zu den Weltmeeren. Mit Ausnahme des durch reiche Öl-, Gas-, Kohle-, Erz-, Uran- und anderen Rohstoffvorkommen vorkommen relativ wohlhabenden Kasachstans, sind die meisten Länder Zentralasiens in wirtschaftlicher Hinsicht relativ arm. Dies trifft besonders auf Kirgisistan und Tadschikistan zu. Aber selbst in Kasachstan ist sozioökomische Armut jenseits der größeren Städte weit verbreitet.
In politischer Hinsicht sind die meisten Länder der Region von einer prekären Stabilität geprägt, die jedoch von ethnischen Konflikten sowie wirtschaftlicher, politischer oder kultureller Polarisierung regelmäßig unterminiert werden. Ein gutes Beispiel hierfür ist Tadschikistan, wo wirtschaftliche Armut, ethnische Konflikte und ein durch harte Repression bekämpfter islamischer Fundamentalismus eine permanente latente Instabilität schafft.
Die politische Landschaft ist von oligarchisch geprägten autoritären Regierungen bestimmt, deren politische Eliten bürgerliche Rechte immer weiter einschränken und sich ideologisch und geopolitisch stark an die traditionelle Hegemonialmacht Russland anlehnen, in wirtschaftlicher Hinsicht aber seit Jahren verstärkt den Anschluss an das wirtschaftlich stärkere China suchen. Auch wenn Kasachstan, Usbekistan, Kirgisistan, Tadschikistan und Turkmenistan (sowie Afghanistan) oft unter der räumlich-geographischen Klammer „Zentralasien“ zusammengefasst werden, sind die Länder sehr heterogen und kooperieren in politischer Hinsicht oftmals wenig untereinander. Einen Sonderfall stellt das isolierte, totalitär geführte und beinahe vollkommen abgeschottete Turkmenistan dar.
Korruption ist allgemein weit verbreitet und hemmt wirtschaftliche Fortschritte. Die wirtschaftlich prekäre Situation und mangelnde Perspektiven im Land zwingen viele Menschen zur Arbeit ins Ausland.
Es wird geschätzt, dass mehr als 1,5 Millionen Arbeitskräfte aus Tadschikistan, mehr als 3 Millionen aus Usbekistan sowie mehr als 1 Million aus Kirgistan in Russland arbeiten. Entsprechend wesentlich sind für diese Länder auch die Rücküberweisungen der Arbeitsmigrant:innen, die nach Schätzungen bis zu ein Drittel der Wirtschaftsleistung der Länder ausmachen.
Der Trend zur Arbeitsmigration in Russland begann vor mehr als 20 Jahren, als das Land während des Booms seiner Öl- und Gasbranche billige Arbeitskräfte vor allem für den Bau- und Dienstleistungssektor suchte. Die Aussicht auf Arbeit, der leicht zugängliche Arbeitsmarkt und häufig vorhandene russische Sprachkenntnisse lockten viele Menschen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens ins Land.
Doch die Situation für zentralasiatische Arbeitsmigrant:innen in Russland ist katastrophal. Sie erledigen für wenig Geld die schweren und schmutzigen Jobs. Zudem sind ihre Arbeitsbedingungen häufig miserabel, Vorgaben für den Arbeitsschutz werden ignoriert, systematische unbezahlte Mehrarbeit ist weit verbreitet und es besteht ein unzureichender Versicherungsschutz, manchmal bleiben Lohnzahlungen teilweise oder komplett aus.
Ein wesentlicher Faktor sind ethnisch-rassistische Vorurteile, welche in Russland weitverbreitet sind, auch als Folge der bis heute unaufgearbeiteten russischen Kolonialgeschichte. Dies führt zu einer tief verwurzelten Diskriminierung ethnischer Minderheiten im Land und einem bedeutenden Maß an Alltagsrassismus. Immer wieder machen Berichte die Runde, dass sogenannte „Gastarbeiter:innen“ pauschal als Kriminelle und Diebe darstellen. Trotz der von Russland immer wieder beschworenen gemeinsamen Sowjetzeit, in der Länder aus Zentralasien und Russland zu einem Staatsblock gehörten, und trotz der russischen Sprache, die auch viele Migrant:innen sprechen können, werden sie auf der Straße rassistisch beleidigt und offen diskriminiert. Russische Rechtsextreme machen beispielsweise in der Moskauer Metro – meist unbehelligt von den Sicherheitsbehörden – Jagd auf Arbeitsmigrant:innen. Dies betrifft auch andere ethnische Minderheiten, wie Menschen aus dem Nordkaukasus, die selbst autochthone Bürger:innen der Russischen Föderation sind.
Die schlechte Behandlung und das Gefühl der Abweisung schüren Frustration und Enttäuschung. In ihrer Heimat sahen sie keine Perspektive für sich, aber im Ausland finden sie auch keine, welche ihnen ein würdiges Leben erlaubt. In dieser Situation steigt die Anfälligkeit der Menschen für fundamentalistische Radikalisierung.
In der Forschung gelten prekäre Lebens- und Arbeitsbedingungen, soziale Entwurzelung und Erfahrungen ethnisch-begründeter Diskriminierung als wesentliche Faktoren für die erhöhte Radikalisierungsgefahr. Als der IS im vergangenen Jahrzehnt in Syrien und im Irak wütete, schlossen sich hunderte Menschen aus Zentralasien als Kämpfer an. Viele von ihnen waren zuvor in Russland radikalisiert worden.
Da die Ursachen für Radikalisierung gut erforscht sind, lassen sich auch Maßnahmen zur Prävention daraus ableiten. Doch wenn die Politik nicht willens oder in der Lage ist, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen – was kann Zivilgesellschaft bewirken?
Bereits in der Vergangenheit – bis zu unserem Verbot in Russland 2021 – haben wir im Nordkaukasus, also in den russischen Gebieten Tschetschenien, Inguschetien, Kabardino-Balkarien und Dagestan zusammen mit zivilgesellschaftlichen Akteuren vor Ort große Programme zur sozioökonomischen Stabilisierung durchgeführt. Konkret haben wir hunderten Menschen mit gezielten Workshops und Seminaren bei der Existenzgründung geholfen, unterstützten sie in der Entwicklung eigener Geschäftsideen und begleiteten sie bei der Umsetzung. Zugleich verbanden wir unser Angebot mit weiterer Aufklärung über, und Maßnahmen gegen Radikalisierung.
Unsere langjährige Kompetenz in Fragen der sozioökonomischen Stärkung benachteiligter Bevölkerungsgruppen bringen wir nun auch in Zentralasien ein, wo wir aktuell gemeinsam mit Partnerorganisationen ein Projekt entwickeln, um Armut, Perspektivlosigkeit und Radikalisierung strukturell zu begegnen. Wir setzen uns dafür ein, dass alle Menschen von einer wirtschaftlichen Entwicklung profitieren.
Wir sind überzeugt: Eine nachhaltige und sozial inklusive wirtschaftliche Entwicklung in Zentralasien wird zu einer wirklichen Verbesserung der Lebensbedingungen führen und so auch dem Extremismus weiteren Zulauf entziehen. Dies gilt vor allem für die stark von Armut und Perspektivlosigkeit betroffenen ländlichen Regionen. Dies stellt einen Gewinn weit über die Grenzen der Region dar.