Die Macht, Freiheit zu geben: zum Tode von Michail Gorbatschow.

DIE MACHT, FREIHEIT ZU GEBEN

Ein Nachruf zum Tode von Michail Gorbatschow

 

Der DRA trauert um Michail Gorbatschow. Sein Leben, sein Wirken, seine Bereitschaft, das Eingemauerte und ideologisch Fundamentierte zu verlassen, hat viele von uns für immer geprägt, so zwiespältig sein politisches Handeln im Einzelnen auch war. Und es scheint, erst jetzt, mit seinem Tod, hat das lange, von Verbrechen und Kriegen, aber auch versuchten Neuanfängen so angefüllte 20. Jahrhundert endgültig ein Ende gefunden – in einem Jahr, in dem der russische Präsident mit einem brutalen Krieg Europa und der Welt einen neuen Kreislauf aus Gewalt und Imperialismus aufzwingt, der damit auch das Erbe Gorbatschows zerstört.

Für vieles, was wir heute täglich tun können, wie wir leben, welche Chancen wir haben oder mit dem Fall des Eisernen Vorhangs vor mehr als 30 Jahren erhalten haben, hat Gorbatschow einst die Voraussetzungen geschaffen. In nur sechs Jahren an der Spitze der sowjetischen Politik – von 1985 bis 1991 – hat er mehrere Generationen von Menschen in eine neue Sozialisation hineinbewegt, und das buchstäblich weltweit.

Denn er gab nicht nur nach außen die meisten der bis dahin von der Sowjetunion beherrschten Länder Mittel- und Osteuropas frei, so dass deren Revolutionen 1989 stattfinden und erfolgreich sein konnten. Er hat auch mit „Perestrojka“ und „Glasnost“, also „Umbau“ und „Transparenz“, Ansprüche an die Offenheit des Regierens und die gesellschaftliche Modernisierungsfähigkeit proklamiert, die als permanente Basis von Demokratie unabdingbar sind. Und obwohl er persönlich und die gesamte erst sowjetische, dann russische Gesellschaft wenige Jahre später an diesem Anspruch erneut scheiterten: Gorbatschow hat damals nach Jahrzehnten der Repression auch im eigenen Land endlich eine kritische Bestandsaufnahme, offene Debatte und echte Beteiligung ermöglicht – so brach sich das Gefühl von Freiheit in der Sowjetunion schon ab 1986 Bahn, lange bevor es auch in den anderen sozialistischen Ländern schließlich Raum bekam.

Nun durfte endlich, wie in Ansätzen schon einmal zu Chruschtschows Zeiten, wieder über den großen Terror und den den GULag, das monströse Lager- und Verfolgungssystem der Sowjetunion, erzählt und geforscht sowie der Millionen von Opfern gedacht werden. Das brachte seinerseits Bürgerinitiativen hervor – oft aus den bis dahin kriminalisierten Dissidentenzirkeln –, wie etwa Memorial, die weltweit Impulse setzen und auch zumindest für 15 Jahre im eigenen Land die berechtigte Achtung erhielten.

Freilich, dazu musste sich Gorbatschow erst durchringen, von anderen gezwungen werden – den letzten Anstoß, die politischen Häftlinge freizulassen, auf Pluralismus zu setzen, gab der tödlich endende Hungerstreik des Ukrainisch-Moskauer Dissidenten Anatoliy Marchenko im GULag-Lager Perm35. Erst danach wurden Andrey Sakharov und anderen aus der Verbannung geholt, die politischen Lager aufgelöst. Auch die Reaktorkatastrophe im Atomkraftwerk Tschernobyl räumte er erst nach äußerem Druck und Tage später ein.

Gorbatschow haben im eigenen Land viele Unentschiedenheit, Schwäche vorgeworfen: Demokra-ten, denen er zu wenig prinzipiell in Fragen der Freiheit war – zumal als er sich 1990 noch einmal mit den reaktionärsten Kommunisten verbündete, bevor die im August 1991 sogar gegen ihn

putschten und ungewollt den Weg für Boris Jelzin und dessen russlandzentrierte Politik ebneten. Andere lasten Gorbatschow den Zerfall des Sowjet-Imperiums an, das sie gern bewahrt hätten – Putin ist nur einer von vielen, uneinsichtig darin, dass viele der vom 16. bis 20. Jahr-hundert kolonial beherrschten Länder und Regionen längst auf ihrer Unabhängigkeit bestanden.

Dritte werfen Gorbatschow im Gegenteil vor, dem Versuch, die Sowjetunion mit militärischer Gewalt zu retten, nicht widerstanden zu haben – in Baku, in Tbilisi, in Vilnius, sogar mit dem Preis von Toten. Ganz zu schweigen von jenen, die Gorbatschow für brachiale Anti-Alkoholkampagnen, den wirtschaftlichen Zerfall und andere Notlagen und die Glaubwürdigkeitsverluste der 80er und 90er Jahre verantwortlich machen. Oft blieben seine politischen Antworten unvollständig, gesellschaftliche Aufgaben der Transformation ungelöst – ein großer Komplex, mit dessen Ursachen und Folgen sich der DRA und seine Partner in vielen Ländern im gemeinsamen Programm „Transition Dialogue“ seit Jahren befassen.

Und dennoch hat Gorbatschow dem eigenen Land und Europa Großes vermacht: Er hat das gesamte System des Blockdenkens überwunden, das die Welt für Jahrzehnte in feindliche Lager geteilt hat, in der Oktoberrevolution 1917 seinen Anfang nahm und über die Stalin-Zeit und den Kalten Krieg bis 1989 reichte. Im Grunde endete auch mit Gorbatschows Politik erst die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die die Anti-Hitler-Verbündeten sofort 1945 wieder auf konträre Seiten gestellt hatte – als Konflikt um die kommunistische bzw. sozialistische Ideologie und ihre Regime. Er hat im Herbst 1989 in Berlin den „Fall“ der Mauer – den letztlich entschlossene Menschen er-zwangen – vorbereitet, indem er den greisen Diktatoren um Honecker öffentlich die Legitimation entzog, und er hat dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik im 4+2-Abkommen zugestimmt.

Er hat auf Macht zugunsten von Befreiung verzichtet, keine Angst vor Öffnung gehabt. Er hat nicht zuletzt die Logik des Wettrüstens zugunsten von Vertrauen aufgegeben – und so auf die latente Kriegsdrohung verzichtet, die jahrzehntelang Teil des sowjetischen wie amerikanischen Selbstverständnisses war. Einige der Fachleute, die damals für Gorbatschow die Abrüstungs-kontrollen und -Programme zu den Chemiewaffen durchführten, waren später Mitarbeiter seiner Umwelt-Stiftung – und haben noch 2010 mit dem DRA versucht, neuartige Biogas-Technologien in Russland zu etablieren: Eines von vielen Beispielen, in denen damals das militärische Feindliche in ziviles Zukunftweisendes überführt wurde.

Gorbatschow hat schließlich das große Ziel vom gemeinsamen europäischen Haus formuliert und zum allgemeinen Anspruch erhoben. Leider ist es 2022 noch immer nicht eingelöst. Gorbatschow selbst hat nach 1991 den triumphierenden Ton vieler im alten „Westen“ beklagt, sah eine Siegermentalität statt ernsthafter Integrationskonzepte. Diesen Eindruck teilten viele in Russland, aber auch in Ostdeutschland und in anderen Gebieten des früheren Ostblocks – in manchem berechtigt, in vielem überzogen. Dabei bleibt es ungewiss, ob ein anderes Verhalten dieses „Westens“ zu anderen Entwicklungen in den Ländern Mittel-/Osteuropas geführt hätte, die doch wesentlich von inneren Akteuren und Rahmenbedingungen bestimmt sind.

So besteht eben der jetzige russische Präsident und überzeugte Geheimdienstler Vladimir Putin weiter auf einem quasi-sowjetischen – dabei nicht etwa sozialistischen – Imperium und betreibt seit seinem Machtantritt 1999 – ungerührt von Opfern und Kosten – die Rückkehr zum Status einer Supermacht, der angeblich ein selbstverständliches Recht Russlands sei. Anders als bei Gorbatschow verlangt Putins Bild vom europäischen Haus, dass alle Nachbarn lediglich von Russland abhängige Untermieter sind, die dessen Interessen und Regeln zu folgen haben.

2022 hat Putin mit dieser Anmaßung und diktatorischen Allmacht, die er seit über 20 Jahren durch schrittweise Ausschaltung aller Gegenstimmen erzeugt hat, zu einem großen Krieg gegen die Ukraine geführt – vorbereitet in Georgien, Syrien und der Ukraine selbst, ergänzt durch zig andere Eingriffe zwischen Belarus, Venezuela und Mali.

Gorbatschow, der sich wie Putin eine Wiederherstellung der internationalen Achtung Russlands gewünscht hat – und wiederum undeutlich darin war, wieso die aus einem Großmachtstatus rühren solle – hat bis zuletzt auch „Glasnost“ und „Perestrojka“ verteidigt und als Teileigentümer die kritische Novaya Gazeta mit am Leben erhalten, die Putin nach Kriegsbeginn, wie zuvor schon alle übrigen unabhängigen Medien, aus Russland hat verjagen lassen.

Ergebnis der Putinschen Gewaltpolitik dagegen ist das Wiedererstehen politischer und militä-rischer Blöcke, von neuen Mauern, undurchdringlichen Grenzen, vermutlich noch einmal für Jahrzehnte. Fast alle Länder Europas vereinen sich gegen das Putinsche Russland, um mit der Unterstützung der Ukraine auch sich selbst und ihr Europa-Modell eines gemeinsamen Raums gleichberechtigter, demokratischer Länder zu verteidigen. Sie nennen das oft einfach „die Freiheit“. Aber es geht um mehr: auch um den physischen Schutz der Menschen, um die Gültigkeit von Recht, einschließlich des Völkerrechts, um die Meinungsfreiheit, um Sicherheit, Vertrauen und ausgleichenden Umgang mit Interessen wie Kontroversen.

Umso symbolischer ist es, dass sich gerade am Tag des Todes von Michail Gorbatschow in Prag die Außenminister der EU trafen, um über die gemeinsame Verteidigung gegen das heutige Regime in Russland sprechen – und über mögliche Visa-Beschränkungen für die russischen Bürger:innen, die Putin und seinen Kurs nicht verhindert haben, oft nicht konnten, zu viele – nicht wollten. Von denen ein Teil gar den Krieg unterstützt. Die EU, die die Integration in Europa zum Leitstern erhoben hat, verstärkt nun die Mauern gegen jene, die alle Gemeinsamkeiten zerstören.

Und symbolisch ist auch, dass sich gerade am Tag nach Gorbatschows Tod die russische Opposition und Zivilgesellschaft zu einem „Kongress des Freien Russland“ in Vilnius trifft, weil sie sich zu vereinigen sucht gegen die Diktatur im Heimatland (auch der DRA ist vertreten). Und es geschieht in jener Stadt, die sich mit am stärksten gegen Gorbatschows bewaffnete Versuche zum Erhalt der Sowjetunion gewehrt hat, die ihn sogar als Verbrecher ansieht – und die nun viele der Regimekritiker aus Russland aufgenommen hat.

Jetzt den Widerstand gegen den Krieg und die Diktatur zu stärken und zu organisieren, sind zentrale Aufgaben. Auch der DRA trägt dazu täglich bei, darunter zu einer Anti-Kriegs-Plattform der russischen Communities in Europa, gemeinsam mit CISR e.V. und vielen Partnern europaweit.

Gleichzeitig gilt es stets im Kopf zu behalten, dass in jedem Land Menschen leben, die sich später im gemeinsamen Haus Europa, wie es Gorbatschow und vielen seit 1989-1990 vorschwebte, eine Heimat finden können sollen. Für den DRA bleibt das ein Kernanliegen: Selbst wenn noch Jahrzehnte vergehen, eines Tages werden die Länder in Europa tatsächlich als Demokratien miteinander friedlich, kooperativ, gutnachbarschaftlich, gleichberechtigt leben, in einem gemeinsamen Raum, in dem die Rechte der Menschen geschützt sind. Dazu gehört weiter, dass die Menschen Kontakt, Austausch erleben, gegenseitig Kenntnis und Achtung entwickeln. Und die Rechte des anderen achten. Heute sind das zuvörderst – die der Ukraine.

Aber es ist und bleibt zudem die Aufgabe, zu einer von den Bürger:innen getragenen Gesellschaft und internationalen Gemeinschaft zurückzukehren – eben jener europäischen Zivilgesellschaft, die zum Teil unseres Namens geworden ist und in der kein Land nachrangig ist.

Michail Gorbatschow verdient eine dauerhafte und öffentliche Würdigung an einem sichtbaren Ort in Deutschland. Eine zentral gelegene Straße oder ein Platz in Berlin sollten nach ihm benannt werden und ein Denkmal oder eine Stele zudem kenntlich machen, was er geleistet hat und welch schwierigen, auch problematischen Weg er dabei gegangen ist. Die Bundesrepublik sollte sich zu diesem bedeutenden, vielschichtigen Vermächtnis bekennen – zumal wir selbst in den nächsten Jahrzehnten auch daran gemessen werden.

Stefan Melle

Geschäftsführer DRA e.V.

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